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Anhörung zum Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten

Stuttgart, den 19.12.2022

An
Frau Ministerialdirigentin
Gerda Windey
Ministerium der Justiz und für Migration
Schillerplatz 4

Sehr geehrte Frau Windey,

für die Gelegenheit, zu dem oben bezeichneten Gesetzentwurf Stellung nehmen zu können, danken wir sehr. Gerne nutzen wir diese Gelegenheit.


Unsere Stellungnahme bezieht sich auf das Kernanliegen des Gesetzentwurfs, nämlich die mündliche Verhandlung in Präsenz um die Möglichkeiten einer Videoverhandlung oder eines Hybrids aus Präsenz- und Videoverhandlung zu erweitern. Wir begrüßen grundsätzlich eine solche Erweiterung der Verhandlungsmöglichkeiten, insbesondere soweit neue Befugnisse des Gerichts geschaffen werden sollen, Video- und Hybrid-Verhandlungen anzuordnen.


Wir sind jedoch der Auffassung, dass der Gesetzentwurf in zwei zentralen Punkten weit und zweckwidrig, ja sogar unzulässig über die erklärten Ziele hinausschießen. Gemeint sind die beabsichtigten Regelungen, die Videoverhandlung zum Regel-Format der mündlichen Verhandlung zu erheben, wenn die Parteien übereinstimmend die Durchführung als Videoverhandlung beantragen (§ 128a Abs. 2 S. 2 ZPO-E), sowie die Schaffung eines Rechtsmittels gegen eine etwaige Ablehnung eines solchen Antrags (§ 128a Abs. 2 S. 3, 4 ZPO-E).

Zu beiden Punkten haben unsere verbandsinternen Umfragen in der Kollegenschaft ein geschlossenes und einhelliges Bild der Ablehnung ergeben.

Die beabsichtigten Regelungen überfrachten das Verfahren über die Behandlung eines allseitigen Antrags auf Videoverhandlung mit einer bürokratischen und formalistischen Überregulierung, die den Zweck einer Verfahrensbeschleunigung konterkariert. Alleine der vorgesehene Begründungszwang wird für eine Verfahrensverzögerung statt –beschleunigung sorgen; dies gilt erst recht, wenn das für diesen Fall vorgesehene Rechtsmittel eingelegt wird.

Über diese Zweckmäßigkeitserwägungen hinaus haben wir auch erhebliche Bedenken gegen die Zulässigkeit der vorgesehenen Regelung. Die Ausgestaltung als Soll-Vorschrift ist ein nicht hinnehmbarer Eingriff in die richterliche Verfahrensleitung, die einen Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit darstellt. Gleiches gilt für die Anfechtbarkeit der ablehnenden Entscheidung im Wege der Beschwerde. Sie stellt eine Gängelung bei der richterlichen Verfahrensleitung dar. Überdies wäre die Regelung, wenn sie so Gesetz würde, ein Fremdkörper in der bisherigen Ausgestaltung der Prozessleitung als nicht gesondert anfechtbare richterliche Verfahrenshandlung. Maßnahmen der Verfahrensleitung sind nach derzeitigem Rechtsstand nicht gesondert anfechtbar, sondern stehen zusammen mit dem Rechtsmittel gegen die Hauptsache auf dem Prüfstand der Rechtskontrolle durch die Rechtsmittelgerichte. Die vorgesehene Beschwerdemöglichkeit wird nicht nur erhebliche zeitliche Verzögerungen im Verfahrensablauf, sondern darüber hinaus auch unnötigen bürokratischen Aufwand erzeugen.

Skeptisch sehen wir auch die Annahme, mit dem Einsatz der Video-Verhandlung werde eine größere Bürgernähe einhergehen. Die Erfahrungen zeigen, dass auch im Digital-Zeitalter die größte Bürgernähe und Transparenz des Rechtsprechungsvorgangs gerade in einer mündlichen Verhandlung mit Präsenz aller Beteiligten erzeugt wird. Zu Recht stellt die bisherige gesetzliche Regelung die mündliche Verhandlung als das Kernstück des Rechtsstreits in den Mittelpunkt des Verfahrens; eine Video-Verhandlung kann diese Nähe und Intensität der Erörterung der Sach-und Rechtslage, des Austauschs von Argumenten und die auf eine gütliche Einigung hinwirkende Moderation durch das Gericht in vielen Fällen nicht annähernd erreichen. Die Abwägung, ob die mündliche Verhandlung zweckmäßigerweise in Präsenz oder in einem Video-Format durchzuführen ist, muss der Einschätzung des Gerichts überlassen bleiben. Es wäre ein unzulässiger Eingriff in die Prozessleitung des Gerichts, wenn es der gerade in dieser Frage der Disposition der Parteien unterworfen würde. Ein massiver Autoritätsverlust richterlichen Agierens wäre die Folge. Die ZPO in ihrer bisherigen Fassung hat mit besten Gründen davon abgesehen, richterliche Prozessleitungsmaßnahmen – außerhalb solchen, die die Besorgnis der Befangenheit begründen könnten – einem eigenständigen Rechtsmittel zu unterwerfen. Diese Grundentscheidung der ZPO hat sich bestens bewährt und bedarf auch im Digital-Zeitalter keiner Korrektur.

Wie wichtig die diesbezügliche Prärogative des Gerichts und nicht der Parteien ist, zeigen die bisherigen Erfahrungen mit Videoverhandlungen. Der für die Beweiswürdigung wichtige persönliche Eindruck bei der Vernehmung von Parteien, Zeugen und Sachverständigen bleibt oftmals deutlich hinter dem zurück, der in einer mündlichen Verhandlung gewonnen werden kann. Würde das Gericht dem Diktat der Parteien unterworfen, so wäre konkret ein erheblicher Qualitätsverlust, was den Beweiswert von Vernehmungspersonen anlangt, zu befürchten.

Auch andere Motive der Gesetzgebungsinitiative erscheinen zweifelhaft:

Dies gilt insbesondere für den im Gesetzentwurf dargestellten Erfüllungsaufwand der Verwaltung mit unrealistisch niedrig angenommenen einmaligen und laufenden Kosten. Ganz grundlegend wird die technische Situation an den Gerichten der Länder verkannt. Bei weitem nicht alle Verhandlungssäle in allen deutschen Gerichten sind mit tauglicher Videokonferenztechnik ausgestattet, die die Anforderungen an die Ersetzung einer Präsenzverhandlung durch ein Videoformat erfüllen. Der Entwurf unterschätzt bei weitem die zu erwartenden Kosten, die für die technische Umsetzung des Entwurfs in der Praxis für die Länderhaushalte anfallen werden.

Der Entwurf schätzt auch die Bedeutung der Qualität der technischen Ausstattung der Gerichte falsch ein für die Frage, ob sich Richterinnen und Richter für oder gegen eine Videoverhandlung entscheiden. Es liegt auf der Hand, dass die Neigung zu einer Videoverhandlung dann gering ist, wenn – wie vielfach in der heutigen gerichtlichen Praxis – entweder für die Verhandlung vorab ein spezieller Saal bei der Verwaltung reserviert oder eine mobile Videoanlage bei Bedarf im jeweiligen Verhandlungssaal installiert werden muss. Dass umgekehrt die Ausstattung aller Sitzungssäle mit einer fest installierten, gut gewarteten, problemlos funktionierenden und leicht zu bedienenden Videokonferenztechnik (auch bei unveränderter Gesetzeslage) zu einer erheblichen Steigerung der Videoverhandlungen führt, zeigt sich bei Gerichten, die auf eine solche Ausstattung umgestellt haben.

Auch die Annahme des Gesetzentwurfs, „der geringere zeitliche Aufwand für alle Beteiligten und das Gericht erleichtert die Terminierung von mündlichen Verhandlungen und trägt damit zu einer Verfahrensbeschleunigung bei“ ist nicht realitätsgerecht. Die Installation einer Videokonferenztechnik und die Kontaktaufnahme mit allen Prozessbeteiligten jeweils vor Verhandlungsbeginn bedingt einen erheblichen Zusatzaufwand, so dass die vom Entwurf erwartete Verfahrensbeschleunigung oft auch gar nicht eintreten wird. Überdies wird im Realbetrieb eine schnelle Vor-Ort-Hilfe (IT-Support) notwendig sein, um die in der Praxis ständig auftretenden Funktionsmängel rasch und effektiv beheben zu können.

Mit freundlichen Grüßen!

Wulf Schindler