Strafjustiz wird zum Flaschenhals

Nach dem Terroranschlag von Solingen hat die inzwischen gescheiterte Bundesregierung Gesetze punktuell verschärfen wollen. Damit ist sie hinter dem Notwendigen zurückgeblieben. Es braucht jetzt ein Sofortprogramm für mehr Sicherheit und für einen wehrhaften Rechtsstaat.

Mit Messerverboten, einigen eilig zusammengestellten neuen Befugnissen der Polizei und der Ankündigung beschleunigter Asylverfahren wäre für die innere Sicherheit noch nicht viel gewonnen worden. Der Schlüssel liegt in einer besseren Rechtsdurchsetzung, in einem effektiveren Vollzug der Gesetze. Überforderte Behörden und überlastete Gerichte können mit ihren wachsenden Aufgaben aber immer weniger Schritt halten. Deshalb braucht es jetzt einen großen Wurf, mit dem es gelingt, Verfassungsschutz und Polizei, Staatsanwaltschaften und Strafgerichte, Migrationsbehörden und Verwaltungsgerichte rechtlich, personell und technisch so aufzustellen, dass sie das Sicherheitsversprechen des Staates umfassend erfüllen können.

Die Justiz droht bei der Kriminalitätsbekämpfung und Migrationssteuerung mehr denn je zum Flaschenhals zu werden. Die Staatsanwaltschaften haben 2023 bundesweit die Rekordzahl von mehr als 5,5 Millionen neuen Fällen erreicht, etwa 350.000 mehr als im Vorjahr und rund 860.000 mehr als vor zehn Jahren. Zum Jahresende 2023 haben die Strafverfolger bundesweit 923.000 offene Verfahren gemeldet, ein Viertel mehr als 2021. Der Verfahrensstau wird immer länger. Gleichzeitig sinkt die Anklagequote der Staatsanwaltschaften seit Jahren: Weniger als jedes 15. Verfahren hat 2023 zu einer Anklage geführt, während es 2013 noch jeder 10. Fall war. 29 Prozent aller erledigten Verfahren haben die Ermittler 2023 nach Ermessensvorschriften mit oder ohne Auflagen eingestellt (knapp 1,6 Millionen Fälle). Das betrifft insbesondere Akten, in denen die Behörden zwar einen hinreichenden Tatverdacht sehen, die Vorwürfe gegen die Beschuldigten aber als eher geringfügig einstufen und deshalb auf eine Anklageerhebung verzichten. 

Bundesweit fehlen in den Staatsanwaltschaften wegen ihrer stark gewachsenen Aufgaben inzwischen rund 2000 Ermittler. Die Fallzahlen steigen ungebremst weiter und die einzelnen Verfahren werden immer aufwendiger, weil die Regelungsdichte der Strafgesetze seit vielen Jahren zunimmt. Der politische Reflex, auf ein Problem mit einer schnellen Gesetzesverschärfung zu reagieren, ist sehr verlässlich, wie die aktuelle Sicherheitsdebatte zeigt. Auch viele Strafgerichte klagen über gravierende Personallücken und immer längere Laufzeiten. So ist die durchschnittliche Dauer erstinstanzlicher Strafverfahren vor den Landgerichten zuletzt auf 8,4 Monate gestiegen. Gerechnet ab Eingang bei der Staatsanwaltschaft haben die Verfahren im Schnitt sogar 21,5 Monate gedauert. Zehn Jahre zuvor ging es noch mehr als vier Monate schneller. Bei den Amtsgerichten hat sich die durchschnittliche Verfahrensdauer auf fast sechs Monate verlängert. Die Verwaltungsgerichte sind ebenfalls nicht gut genug aufgestellt, um das vom Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten ausgerufene Ziel zu erreichen, Asylklagen grundsätzlich innerhalb weniger Monate abzuschließen. Soll das flächendeckend gelingen, braucht es auch zusätzliche Verwaltungsrichter. Denn viele Gerichte haben noch immer mit hohen Aktenbergen in Asylsachen zu kämpfen, die bis in die Jahre 2016 und 2017 zurückreichen.

Nach allen Umfragen haben neben der Wirtschaftspolitik die Themen Kriminalitätsbekämpfung, Innere Sicherheit und Migrationssteuerung für die Bürgerinnen und Bürger hohe Priorität. Sie erwarten zu Recht, dass die politischen Parteien die Probleme aufgreifen und Lösungen finden. Der von der Bundesregierung bereits 2021 versprochene Bund-Länder-Pakt für einen wehrhaften Rechtsstaat ist aber bis zuletzt von der inzwischen gescheiterten Ampel nicht umgesetzt worden. Während die Bundestagsfraktionen von Grünen und SPD noch im September unter dem Eindruck der Ereignisse von Mannheim und Solingen erneut einen Bund-Länder-Investitionspakt gefordert haben, sind der Bundesfinanzminister und der Bundesjustizminister weiterhin auf der Bremse geblieben. Sie haben die „gesamtstaatliche Anstrengung“ für einen durchsetzungsfähigen Rechtsstaat, die der Bundespräsident nach dem Anschlag von Solingen angemahnt hat, ihrem finanzpolitischen Kurs untergeordnet. Gelingt jetzt aber kein großer Wurf, dürfte sich der Vertrauensverlust bei vielen Menschen beschleunigen, was die politischen Ränder weiter nährt und die demokratische Mitte auszehrt. Es wäre ein hoher Preis.

Ein Beitrag von Sven Rebehn, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes, für den Focus.(aktualisiert am 12.11.2024)

Ansprechpartner

Bild von Matthias Schröter Matthias Schröter Pressesprecher
Telefon030 / 206125-12 Fax 030/ 206125-25 E-Mail schroeter@drb.de